Johann Sebastian Bach: Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir, BWV 131
Das Werk
Die Kantate „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu Dir“, BWV 131, aus der Feder des jungen Johann Sebastian Bach zählt zu seinen bekanntesten geistlichen Kantaten und zeigt schon früh die große Kunstfertigkeit des Komponisten. Die klanglich ausgewogene und ausdrucksstarke Komposition bedient sich dabei der musikalischen Rhetorik – u.a. des Passus duriusculus – und nutzt diese, um die Thematik des Flehens und Klagens expressiv in der Musik zu verdichten.
Entstehung der Kantate
Bei der Kantate „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir“, BWV 131, handelt es sich um eine der frühesten erhaltenen Kantatenkompositionen Johann Sebastian Bachs, denn die Kantate entstand 1707 in Mühlhausen, wo der junge Bach als Organist an der Divi-Blasii-Kirche wirkte. Aus einem handschriftlichen Vermerk Bachs auf der Partitur geht hervor, dass das Werk „Auff begehren Tit: Herrn D: Georg: Christ: Eilmars in die | Music gebracht“ wurde. Der Auftraggeber Georg Christian Eilmar war zu dieser Zeit Pastor der Marienkirche Beatae Mariae Virginis in Mühlhausen.
Dem Kantatentext mit Psalm 130 als Grundlage sind die Strophen 2 und 5 des Liedes „Herr Jesu Christ, du höchstes Gut“ (1588) aus der Feder von Bartholomäus Ringwaldt (1532–ca. 1599) hinzugefügt. Die Zusammenstellung der Texte stammt dabei entweder von Bach selbst oder seinem Auftraggeber Eilmar.
Der Anlass, für den das Werk komponiert wurde, ist unbekannt – als wahrscheinlich gilt, dass die Kantate für einen Bußgottesdienst nach dem Mühlhäuser Stadtbrand am 29. Mai 1707 entstand. Nachdem der zugrunde gelegte Psalm 130 den Eingangspsalm für den elften Sonntag nach Trinitatis darstellt, liegt die Vermutung nahe, die Kantate könnte an diesem Sonntag – dem 4. September 1707 – aufgeführt worden sein. Bislang liegen jedoch keine dokumentarischen Belege für die Richtigkeit dieser Annahme vor.
Das leidenschaftliche Jugendwerk des zweiundzwanzigjährigen Bachs wurde 1881 erstmals von Bachforscher Friedrich Wilhelm Rust (1822–1892) veröffentlicht. Als Druckvorlage fungierte damals die autographe, mit besonderer Sorgfalt geschriebene Originalpartitur, die heute auf eine abenteuerliche und aufregende Geschichte zurückblicken kann, denn sie galt nach dem zweiten Weltkrieg als verschollen und tauchte später wieder in New York auf.
Aufbau der Kantate
Die Kantate „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu Dir“ setzt sich aus fünf fließend ineinander übergehenden Sätzen zusammen. Das Werk folgt dabei einer symmetrischen Form: Drei große Chorsätze werden durch intensive Dialogabschnitte, in denen Psalm und Chorallied miteinander verknüpft werden, unterbrochen. Der junge Bach war dabei bestrebt, die Einzelsätze möglichst charakteristisch zu vertonen – dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Komponist das Werk als eine große Einheit verstand.
In eine von Oboensolo und Streichersatz getragene Sinfonia im Adagio setzen im Eingangschor nach und nach die einzelnen Chorstimmen mit dem aus der Tiefe aufsteigenden Ruf nach Bitte um Hilfe („Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir“) ein. Die daran anschließenden innigen Anrufungen „Herr, Herr, höre meine Stimme“ im Vivace-Teil entwickeln sich zu einer ausdrucksstarken Fuge, die am Ende des ersten Satzes in ein seufzendes Flehen („laß deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens“) übergeht.
Der Attaca-Übergang vom Eingangschor zum Bass-Arioso unterstreicht Bachs Idee, den Psalmtext in einer durchgehenden Einheit zu vertonen. In den zweiten Vers von Psalm 130 („So du willst, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen? Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.“) – vorgetragen vom Solo-Bass – ist die zweite, um Erbarmen flehende Strophe des Chorals von Bartholomäus Ringwaldt („Erbarm dich mein in solcher Last“) als Cantus firmus für den Sopran eingefügt.
Mit einer gewagten harmonischen Rückung beginnt Bachs mittlerer Chorsatz („Ich harre des Herrn“), der das Bekenntnis des Psalmdichters, auf Gott zu harren und auf sein Wort zu hoffen, auf zwei Aspekte fokussiert – das geduldige Harren und das endlose Hoffen: Auf die kyrieähnliche, dreimalige Anrufung „Ich harre des Herrn“ folgt eine virtuose Fuge, die die Dauer des Wartens und die Intensität des Vertrauens musikalisch umsetzt. Unermüdlich ertönt von den Mittelstimmen das Wort „ich hoffe“, das den pulsierenden Satzcharakter stützt.
Auf den mittleren Chorsatz folgt die von langen Noten und stetigen Wiederholungen geprägte Tenor-Arie, die mit den Worten „Meine Seele wartet auf den Herrn von einer Morgenwache bis zu der andern“ voll Geduld in das Bekenntnis des Psalmdichters einstimmt, während der Alt bittend die fünfte Strophe des Chorals („Und wollte gern im Blute dein von Sünden abgewaschen sein“) vorträgt. Trotz der d-Moll-Tonalität vermittelt dieser sicilianoartige Satz im Lento große Zuversicht und wohltuende Geborgenheit.
Der Schlusschor („Israel, hoffe auf den Herrn“) beginnt abermals mit einer harmonischen Rückung, die den Wechsel des musikalischen Duktus betont. Mit dem Wechsel langsamer und schneller Abschnitte (Adagio/Allegro) zeichnet Bach ausdrucksstark sämtliche Facetten des Psalmtextes („Israel hoffe auf den Herrn; denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm. Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.“) nach. Die ausgedehnte, temporeiche Fuge über den letzten Psalmvers führt über charakteristische Motive einen ausdrucksstarken Schluss herbei, der in ein homophones Adagio mündet.
Text der Kantate
1. Sinfonia e Coro (Chor) |
Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir. |
2. Aria con Corale (Duetto, Bass und Sopran (Chor)) |
Bass:
Sopran (Chor):
Bass:
Sopran (Chor): |
3. Coro (Chor) |
Ich harre des Herrn, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort. |
4. Aria con Corale (Duetto, Tenor und Alt (Chor)) |
Tenor: Alt (Chor): |
5. Coro (Chor) |
Israel, hoffe auf den Herrn; denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm. Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden. |
Quellenangaben:
Bild: Johann Sebastian Bach (Link zum Bild: https://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb39602360t). © Antoine Maurin/Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France/PD
Bach digital (2019): Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir. URL:
https://www.bach-digital.de/receive/BachDigitalWork_work_00000160 [Stand: 03/2019]
Grischkat, Hans (1959): Vorwort. In: Johann Sebastian Bach: Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir. Stuttgart: Hänssler Verlag. S. III-IV.
Hartinger, Anselm / Graf, Kral (2013): aus der tiefen rufe ich, herr, zu dir. In: Johann-Sebastian-Bach-Stiftung St. Gallen (Hrsg.) (2013): aus der tiefen rufe ich, herr, zu dir (DVD-Booklet). St. Gallen: Johann-Sebastian-Bach-Stiftung.
Leisinger, Ulrich (2004): Vorwort. In: Leisinger, Ulrich (2014): Johann Sebastian Bach: Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir. Stuttgart: Carus-Verlag. S. 3.
Stefanie Petelin | 07.04.2019